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Hans Fehr | Nationalrat von 1995-2015



"Die Lorelei" ist beängstigend aktuell

Von Hans Fehr, Nationalrat von 1995-2015, in dieser Eigenschaft Mitglied der Staatspolitischen sowie der Sicherheitspolitischen Kommission

Meine Beiträge 2016-2017

Beitrag für die Basler Zeitung vom 17.03.2017

"Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin; ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn." Schon dieser tiefgründig-melancholische Eingangsvers und die herrliche Sprachmelodie von Heinrich Heines "Lorelei" ziehen uns in ihren Bann. Die sagenhafte schöne Jungfrau auf dem Felsen hoch über dem Rhein hat Generationen fasziniert.

Die Vertonung des "Loreleyliedes" 1838 durch Friedrich Silcher hat das Gedicht tief in die "Volksseele" eingeprägt. Es wurde zum deutschen Volkslied schlechthin und zum eisernen Repertoire vieler Männerchöre. Selbst die Nazis erkannten die reine Schönheit des Gedichts. Wegen der jüdischen Abstammung Heines erfanden sie jedoch zur "völkischen Rettung" der wundersamen Verse die infame Lüge "Verfasser unbekannt"

Die Faszination

Die Faszination zeigt sich eindrücklich auf einer Rheinschifffahrt von Basel nach Rotterdam. Je mehr sich das Schiff dem Lorelei-Felsen bei St. Goarshausen am Mittelrhein nähert, desto erwartungsvoller und unruhiger werden die Passagiere. Sie strömen aufs Deck und wollen den berühmten Felsen, der vom Rheinufer 132 Meter steil aufragt, mit eigenen Augen sehen. Sie stellen sich die verführerische Lorelei vor, die nach der Sage einst auf diesem Felsen sass und alle Blicke auf sich zog. Und sie denken mit Schaudern an die Schiffer, die hier auf die tückischen Felsenriffe aufgefahren und jämmerlich ertrunken sind.

Heinrich Heine hat den dramatischen Stoff wie folgt "verdichtet":



Die Lorelei

Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt, und ruhig fliesst der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet dort oben wunderbar,
ihr goldnes Geschmeide blitzet, sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame, gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen die Lorelei getan.



Heinrich Heine, 1797 in Düsseldorf geboren und 1856 in Paris gestorben, war ein Multitalent - ein begnadeter Dichter, Schriftsteller und Journalist zugleich. Als Vertreter der Romantik, danach aber auch als Überwinder der Romantik, machte Heine die deutsche Alltagssprache sozusagen "lyrikfähig" und gestaltete selbst Reiseberichte zur Kunstform.

Heines Erzählungen (zum Beispiel Florentinische Nächte; Der Rabbi von Bacharach), seine Essays und Streitschriften (Die romantische Schule; Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) sind Meisterwerke. Vor allem seine dramatischen Gedichte - wie Die Lorelei, Belsazar oder Die Grenadiere - haben mich schon in der Schule fasziniert, weil sie "aufs Ganze" gehen. So zum Beispiel der verzweifelte Grenadier, der nach der Gefangennahme seines verehrten Kaisers Napoleon sterben möchte und seinem Kollegen, der zu seiner Familie zurückkehren will, zuruft: "Was schert mich Weib, was schert mich Kind (…); lass sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind - mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!"

Verführungen und Verlockungen

Die Botschaft der "Lorelei" liegt auf der Hand und taucht in ähnlicher Form schon in der griechische Sagenwelt auf: Die Sirenen, weibliche Fabelwesen, locken die vorbeifahrenden Schiffer mit ihrem betörenden Gesang in den Tod. Verführungen, Verlockungen, grossmundige Versprechen und angebliche Wunder haben die Menschen wohl zu allen Zeiten in ihren Bann gezogen und ihren Geist getrübt.

Auf den Alltag übertragen ist die Botschaft des Gedichtes meines Erachtens klar: Pass auf vor Verlockungen und Trugbildern. Sonst kommt es nicht gut heraus.

Diese Botschaft könnte sich heute auf die Werbung für Schlankheitsprodukte, für raschen Reichtum, für angebliche Wundermittel gegen Krankheiten und Gebrechen und auf viele andere Verlockungen beziehen. Reklame und Medien gaukeln zudem Schönheitsideale vor ("Die schönste Jungfrau sitzet dort oben wunderbar"), die ein "normaler" Mensch niemals erreichen kann, die ihn aber möglicherweise unzufrieden machen und von den wesentlichen Dingen des Lebens ablenken.

Die politische Botschaft

Meines Erachtens drängt sich auch eine politische Interpretation geradezu auf: "Hütet euch vor Schönrednern, Schlaumeiereien und süsslichen Schalmeien!" Ein aktuelles Beispiel ist einmal mehr der "institutionelle" Rahmenvertrag mit der EU, dessen Abschluss in den bundesrätlichen Jahreszielen 2017 ausdrücklich genannt wird. Bei diesem Vertrag geht es letztlich um einen EU-Beitritt ohne Volksabstimmung. Denn wir müssten EU-Recht automatisch übernehmen und bei Differenzen den EU-Gerichtshof anerkennen.

Genau diese Tatsachen werden jedoch von "Bundesbern" vernebelt und schöngeredet. Der Bundesrat spricht von der "Erneuerung des bilateralen Weges" und von der "Normalisierung" unserer Beziehungen zur EU. Ein aktuelles Beispiel ist auch die (Nicht-)Umsetzung des Volksentscheids gegen die Massenzuwanderung, wo man uns weismachen will, der "Inländervorrang light" oder ähnliche Konstrukte würden dem Verfassungsauftrag gerecht. Fazit: "Die Lorelei" ist beängstigend aktuell.