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Augenschein in Stalingrad, Kaluga und Moskau

Artikel, 16. August 2010


Wolgograd, Anfang August 2010. Bei 42 Grad Celsius und einem fast unerträglich heissen Wind scheint die Steppe 25 Kilometer nördlich vom Zentrum Stalingrads (seit 1961 Wolgograd genannt) zu kochen. Gegen 200'000 Tote von den Kämpfen zwischen Don und Wolga, vor allem Deutsche, haben beim ehemaligen Dorf Rossoschka ihre letzte Ruhestätte gefunden. Vor genau 68 Jahren haben hier erbitterte Kämpfe zwischen der 6. Deutschen Armee und der Roten Armee stattgefunden. Vom Spätsommer 1942 bis zum 2. Februar 1943, bei Temperaturen von zunächst 40 Grad über Null und später bis 40 Grad unter Null, hat um die Stadt mit dem für Hitler magischen Namen eine erbarmungslose Schlacht um jedes Haus, um jede Ruine, um jeden Quadratmeter Boden getobt.

Am 23. November 1942 hatte die Rote Armee unter dem Oberbefehl von Marschall Schukow die 6. Armee von Generaloberst Friedrich Paulus, die ursprünglich 220'000 Mann zählte, in einem Gebiet von etwa 60 auf 25 Kilometer vollständig eingekesselt. Der Kessel wurde von mehreren sowjetischen Armeen immer mehr eingedrückt und vom Nachschub abgeschnitten. Die Leiden der Soldaten beider Seiten und der in der völlig zerstörten Stadt verbliebenen russischen Zivilisten waren fast unvorstellbar. Am 31. Januar 1943 wurde der kurz zuvor noch zum Feldmarschall beförderte Paulus im Kommandoposten der 71. Infanteriedivision gefangen genommen. Dieser Kellerbunker im damals einzigen Warenhaus der Stadt ist unversehrt geblieben. Am 2. Februar 1943 haben die letzten deutschen Kräfte im Kessel kapituliert. Die 91'000 Überlebenden kamen in russische Gefangenschaft, wo in der Folge die meisten wegen Krankheiten und Entbehrungen umgekommen sind; nur etwa 6000 Soldaten haben ihre Heimat wieder gesehen. 42'000 Verwundete sowie „kriegswichtige“ Spezialisten waren bis zum Zusammenbruch noch ausgeflogen worden.

Stalingrad war bekanntlich die entscheidende Wende für den Kriegsverlauf an der Ostfront. Hitler, der dem zögerlichen Paulus einen Ausbruch aus dem Kessel untersagt hatte, übernahm nachher die „alleinige Verantwortung“ für die Katastrophe – was immer das heissen mag. Die russischen Kämpfer wurden von den Sowjets verständlicherweise zu Helden und Stalingrad zur Heldenstadt erklärt. Der besonders hart umkämpfte Mamaj-Hügel ist heute ein riesiges Heldenmonument, dominiert von der 85 Meter hohen „Mutter Heimat“ aus Beton, die mit gezogenem Schwert zum weiteren Kampf gegen die Faschisten aufruft.

Die Stadt Wolgograd kämpft heute, wie viele russische Städte in der „Provinz“ abseits der Moskauer Metropole, mit grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einer scheinbar unausrottbaren Korruption. Viele Wolgograder, und viele Russen generell, ergeben sich scheinbar stoisch in die schwierige Situation; von der Regierung erhofft man sich wenig bis nichts.

Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau, bei den „Schweizer Bauern“. Es ist schon nach Mitternacht, als unsere kleine Reisegruppe von Jakob Bänninger (aus Attikon) und Hans Michel (aus Bönigen) samt dessen russischer Frau Julia und den beiden kleinen Kindern herzlich begrüsst und zum Nachtessen empfangen wird. Seit 2004 haben die beiden Schweizer Meisterlandwirte Pionierarbeit geleistet und zusammen mit russischen Angestellten den Betrieb „Schweizer Milch“ aufgebaut, der dank riesigen Anstrengungen bald schwarze Zahlen schreiben soll. Insgesamt 615 Hektaren werden bewirtschaftet (davon 495 ha Grünland, 90 ha Silomais und 30 ha Winterweizen); 500 ha sind Brachland. Dazu kommen rund 250 Milchkühe, 85 trächtige Rinder, 130 Kälber und 190 Stiere. Die Standbeine des Betriebes sind die Milch- und Fleischproduktion, der Futterbau sowie Lohnarbeiten und Tourismus. Die Kühe werden in Schichten gemolken, und jeden Tag werden an Ort und Stelle rund 1500 Tetrapackungen Milch hergestellt und an die Abnehmer geliefert. Drei Brigaden zu vier Personen sind fürs Melken und Füttern zuständig. Marcel Bucher aus dem Entlebuch ist vor allem für das „Herdenmanagement“ verantwortlich, Florian Reichlin aus Vitznau für den Maschinenpark. Zunehmende Bedeutung hat der Tourismus in der schönen Landschaft mit Flüssen und Seen und dem vorzüglichen Gästehaus „Malenkaja Schweizarija“ (Kleine Schweiz). (E-mail: swiss_milk@kaluga.ru  homepage: www.schweizer-milch.ru  Tel: +79 10 520 3808).

Auch der Besuch des hochmodernen und riesigen VW-Werks in der Nähe von Kaluga ist sehr beeindruckend. Ein grosser Teil der Infrastruktur wurde unter der Leitung des Appenzeller Unternehmers Roland Lei gebaut, der schon seit 17 Jahren in Russland tätig ist und mit allen Widerständen umzugehen weiss. Anschliessend empfängt uns der Chef von „Volkswagen Russland“ und zeigt uns den gigantischen Betrieb, der dank guten Beziehungen zu Regierungskreisen in Rekordzeit erstellt wurde und noch weiter ausgebaut wird. Wegen der hohen russischen Importzölle lohnt es sich, auf den Fliessbändern gleichzeitig vier verschiedene VW- und Skodamodelle für den russischen Markt herzustellen. Mit geradezu genialer Technik lässt sich das bewerkstelligen. Der VW-Chef greift auf unserem Rundgang plötzlich sehr energisch und direkt bei der „Basis“ und beim zuständigen Kader ein, als eine Arbeitergruppe etwas vor dem Schichtende nach Hause gehen will. Eine straffe Führung sei dringend nötig, und bei etlichen Leuten müsse man noch „Erziehungsarbeit“ leisten, sonst habe der Betrieb längerfristig keine Chance, meint der Chef.

Moskau. Der Gegensatz zu Kaluga könnte kaum grösser sein. Die 10-Millionen-Stadt, die als Wirtschaftsmetropole einen gewaltigen Boom erlebt, liegt bei unserem Aufenthalt wegen hunderten von Waldbränden unter einem dichten Smog- und Rauchdeckel, der das Atmen schwer macht und die zulässigen Grenzwerte an Kohlenmonoxid und -dioxid mehrfach überschreitet. Der Grossraum Moskau ist in einen milchig-gelblichen Nebel getaucht, der Kreml und andere Gebäude sind nur schemenhaft zu sehen. Das Ganze macht einen unheimlichen, fast apokalyptischen Eindruck. Das Hotel Ritz-Carlton, wo wir dank der guten Beziehungen unseres Führers und Dolmetschers, der aus dem Kanton Glarus stammt, zu einem Vorzugspreis untergebracht sind, ist eine andere Welt.

Es ist verständlich, dass die Moskowiter und Abermillionen von Russen, die unter der Smogwolke leiden und nicht einfach ins Hotel, auf ihre Datscha (Landhaus) oder in eine andere Region ausweichen können, auf die Regierung und die Verantwortlichen in den Oblasten (Kantone) wütend sind. Denn sie haben trotz frühzeitiger Warnungen zu spät gehandelt, und die vorhandenen Mittel sind oft ungenügend.

Ein gewaltiges Problem ist die verbreitete Korruption. „Ohne Schmiergelder oder ähnliche Praktiken geht wenig bis nichts“, wird von verschiedener Seite geklagt. Von der Regierung Putin wird zwar der Kampf gegen Korruption und Bürokratismus lauthals beteuert. In Wirklichkeit hat die Zahl der Staatsbeamten und Kontrolleure aber weiter zugenommen – und auch diese zusätzlichen Beamten sichern sich ihren „Anteil am Geschäft“. Die für eine funktionierende Wirtschaft und für ausländische Investoren erforderliche Rechtssicherheit ist eher ein Fremdwort. Den Profiteuren, die sich im Zuge einer wilden, unkoordinierten Privatisierung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schamlos bereichert haben, steht die Masse jener Leute gegenüber, die vor allem in der „Provinz“ ohne grosse Perspektiven ihr Leben fristen müssen. Verbesserungen sind zwar da und dort im Gang, aber der Weg ist noch weit.

*

Kann die Schweiz einen Beitrag leisten? Ja, versichert man uns, denn unser Land besitzt bei den Russen einen sehr guten Ruf. Die wirtschaftlichen Beziehungen sollen nun mit einem Freihandelsabkommen ausgebaut werden. Und die besondere Wertschätzung unserer Neutralität wird auch von Duma-Seite (Parlament) ausdrücklich betont. So nimmt die neutrale Schweiz beispielsweise die diplomatischen Interessen zwischen Russland und Georgien wahr.
Ein abschliessendes sehr informatives Frühstücksgespräch auf der Schweizer Botschaft in Moskau unter Leitung des erfahrenen und kompetenten Botschafters Walter Gyger bestätigt diesen Eindruck. Unter seiner Vermittlung leistet unser Land nun auch gezielte Hilfe zur Bekämpfung der Waldbrände.

Die Hoffnung bleibt, dass das stolze russische Volk, das seine Leidensfähigkeit in der Geschichte immer wieder unter Beweis stellen musste, einer besseren Zukunft entgegengeht.

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(* Eine kleine Reisegruppe, bestehend aus den Nationalräten Hans Fehr, Ulrich Schlüer, Hans Kaufmann und Silvia Flückiger sowie drei weiteren Personen, hat Russland vom 2.-9. August 2010 auf privater Basis bereist).

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